DIE NACHT VON Donnerstag, 31. März 2005
Nachtsound: Underworld, "Born Slippy"
booldog, 05:10h
(Insomnia zum 30.)
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es eine der legendären Bronx-Partys gewesen ist, für welche das Haus berühmt war, oder nicht. Da es am Vorvorabend meines dreißigsten Geburtstags und somit Ende Oktober war, kann es so kalt noch nicht gewesen sein, daß sich die Gäste, in Mänteln und mit alkoholischen Heißgetränken in der Hand, um die glühenden, mit Sperrholz beheizten Tonnen im Hinterhof scharten. Aber richtig, es war verdammt kalt für die Jahreszeit.
Wir bahnten uns den Weg durch die feiernde Meute: ein paar hundert Partygäste, die der Einladung irgendeiner der beteiligten WGs im Haus gefolgt waren, sorgten für ein sommerliches Stimmengewirr im Hof und für Gedränge in den Kellergängen, Treppenhäusern und Korridoren. Das Publikum bestand zum Großteil aus saturierten Endzwanzigern, die meisten unbekannt, gelegentlich das eine oder andere vertraute Gesicht.
Das rothaarige Mädchen beim Eingang - in the doorway boy - ja, es war die Konservatioriums-Studentin, die ich früher gelegentlich im Nahverkehrszug sah, mit dem Aufkleber des bayrischen Landesjugendorchesters auf ihrem Geigenkasten; nicht selten war oben links an ihrem Hals das knutschfleckartige Grind, das vom zu häufigen Üben mit ihrem Instrument herrührte.
She was a lipstick boy
She was a beautiful boy
Was hätte ich dafür gegeben, wenn dieser Abend ein paar Jahre früher stattgefunden hätte. Ihre große Schwester, mit der ich sie ganz am Anfang verwechselte - es hätte tatsächlich ihre große Schwester sein können - war häufig im einzigen halbwegs akzeptablen Laden der kleinen Unistadt, in dem ich auch mangels Alternativen fast jeden Dienstagabend herumhing.
Mein Kollege Mac, der Webmaster, mit der Bierflasche in der Hand im der rechten Ecke stehend wie immer, jede Menge Germanisten- und Anglistenpack auf der überfüllten kleinen Tanzfläche; mein Informatiker-Kumpel Thomas, der mir sinnloserweise die neuesten Root-Hacks aus seiner Linux-Mailingliste ins Ohr brüllt -- die Szenerie vor Augen, habe ich heute unweigerlich die Pixies im Ohr, "Where Is My Mind". Sisters of Mercy, diffuse Drum-and-Bass-Sounds, ein Mischmasch längst vergessener Tracks. Und, natürlich - Underworld, "Born Slippy".
Grelles, zuckendes Licht; die Nebelmaschine, die mit einem noch durch die Musik hindurch hörbaren "Pfffffftt" den Tanzenden legionellengeschwängerten Kunstnebel gegen die Beine furzt, der langsam den ganzen Raum einhüllt. Ein Gestank wie im Inhalationssaal.
Shouting
Lager lager lager lager shouting...
"Biologin", brüllt Thomas mich von links an, "wenn es die ist, die ich meine", "im [beep]-Wohnheim angeblich sowas wie ein Wanderpokal."
Ich sehe ihr weiter zu, wie sie selig ihre Hüften auf der Tanzfläche wiegt. Und ein riesiger, häßlicher Kasten aus den Fünfzigern mit seinen unzähligen 10-Quadratmeter-Ställen, kakerlakenbefallenen Flurküchen und den tristen Endloskorridoren mit Tür an Tür, in denen man Nachts aus fast jeder Ecke das obligatorische laute Stöhnen hört, leuchtet für einen Moment in einer goldenen Aura der Verklärung.
Wir fanden schließlich unsere Gastgeberin. Nach einem kurzen Smalltalk ließ ich sie mit meinem Freund allein und setzte mich Richtung Bier ab. Um mich herum jede Menge netter, zufrieden und ausgefüllt wirkender junger Erwachsener, die ich an diesem Abend mit einer eigenartigen Freude wahrnahm, vermischt mit etwas Wehmut - wie ein großartiges Album, das man mit Jahren Verpätung für sich entdeckt und dessen Release man seinerzeit verpaßt hat. Ein biographisch Versprengter, von den glatten, beschaulichen Lebensläufen der Anwesenden fast so weit entfernt wie von der Liebsten, von der mich 1000 Kilometer Luflinie und zwei Ländergrenzen trennten.
Von einer sehr sympathischen Blonden, die es gerade hinter sich hatte, ließ ich mir sagen, daß dreißig werden cool sei. Ich führte weitere nette Unterhaltungen, übte in den Gesprächspausen im Geiste Sätze wie "Ich bin dreißig! Ich bin für diesen Mist zu alt!", oder "Als Dreißigjähriger kann ich mich getrost davon verabschieden!" und registrierte befriedigt, daß ich mich dem idealen Alholpegel näherte, als mein Freund mich beiseite zog und mich in die "Katastrophe" einweihte.
Die Gastgeberin hatte ihm irgendwann fordernd und eindeutig zu verstehen gegeben, daß sie auf einem textilfreien Abendausklang gemeinsam mit ihm bestand; mein Freund, völlig von der Situation überrascht, murmelte daraufhin etwas von "gesundheitlichen Problemen" wie "herausgerutschten Bandscheiben".
Nun gut. Das eigentlich Malheur dabei: Rückweg abgeschnitten. Der letzte Zug war weg.
So saßen wir drei nun inmitten des Partytreibens - sie weinerlich und eingeschnappt, M. indigniert und etwas ratlos, ich dagegen innerlich feixend, denn ich machte sie, wenn auch sonst selten nachtragend, dafür verantwortlich, meinem privaten Glück (kind of) nicht genügend nachgeholfen zu haben. Meinen Freund M. zur Party mitzunehmen war das Zustoßen bis zum Heft, mein augenzwinkerndes Alleinlassen der beiden die genüßliche halbe Drehung des Bajonetts gewesen.
Als es irgendwann zur nächtlichen Ruhe ging, fanden wir uns schließlich zu dritt in ihrem Zimmer ein: mein Freund würde das Bett mit ihr teilen, mir wurde ein Schlafsack in die Hand gedrückt, der ärgerlicherweise aus olfaktorischen Gründen völlig unbetretbar war. Während die beiden also friedlich und platonisch schlummernd unter warmen Daunen den Rest der Nacht miteinander zubrachten, nahm ich im Abstand von ca. fünf Metern vom Nichtgeschehen in streng chronologischer Reihenfolge sämtliche 66 Stellungen des Camp-a-Sutra ein, mit den zwei bekannten Grundpositionen: Schlafsack auf mir, weil arschkalt im Zimmer, und ich auf Schlafsack, weil Boden zu hart.
Als ich mich in der Morgendämmerung aus dem Zimmer stahl und bei der Tür einen letzten Blick auf die beiden warf, hatte ich es sofort im Ohr: das Intro von "Born Slippy". Das Motiv stimmte wunderbar mit dem Ende von "Trainspotting" überein: der frühe Morgen kurz vor dem Sonnenaufgang, die Schlafenden, das kurze Zögern vor der Entscheidung; der Verrat. (Mein Freund verfluchte mich später lautstark für diesen Abgang...)
So zog ich Richtung Bahnhof, der aufgehenden Sonne und einem neuen Jahrzehnt entgegen, eine imaginäre Reisetasche voller Geldscheine auf dem Rücken, den Sound und die Zitate der "Trainspotting"-Schlußszene im Sinn:
"Choose Life. Choose a job. Choose a career. Choose a family. Choose a fucking big television, choose washing machines, cars, compact disc players and electrical tin openers."
Sag Ja zum Leben...!
[Epilog. Die Gastgeberin hat wenig später in einem Café-Gespräch mit M. bestritten, sich auch nur im Entferntesten vorstellen zu können, jemals mit ihm...
Mein Leben - und das von M. - nahm ein halbes Jahr später durch das als "New Economy" bekannt gewordene Phänomen eine unerwartete Wendung, im Zuge dessen wir acht Hausnummern vom Ort des Geschehens entfernt einen neuen Job antraten. Die WG sollte ich bis zu ihrer Auflösung nie wieder besuchen.]
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es eine der legendären Bronx-Partys gewesen ist, für welche das Haus berühmt war, oder nicht. Da es am Vorvorabend meines dreißigsten Geburtstags und somit Ende Oktober war, kann es so kalt noch nicht gewesen sein, daß sich die Gäste, in Mänteln und mit alkoholischen Heißgetränken in der Hand, um die glühenden, mit Sperrholz beheizten Tonnen im Hinterhof scharten. Aber richtig, es war verdammt kalt für die Jahreszeit.
Wir bahnten uns den Weg durch die feiernde Meute: ein paar hundert Partygäste, die der Einladung irgendeiner der beteiligten WGs im Haus gefolgt waren, sorgten für ein sommerliches Stimmengewirr im Hof und für Gedränge in den Kellergängen, Treppenhäusern und Korridoren. Das Publikum bestand zum Großteil aus saturierten Endzwanzigern, die meisten unbekannt, gelegentlich das eine oder andere vertraute Gesicht.
Das rothaarige Mädchen beim Eingang - in the doorway boy - ja, es war die Konservatioriums-Studentin, die ich früher gelegentlich im Nahverkehrszug sah, mit dem Aufkleber des bayrischen Landesjugendorchesters auf ihrem Geigenkasten; nicht selten war oben links an ihrem Hals das knutschfleckartige Grind, das vom zu häufigen Üben mit ihrem Instrument herrührte.
She was a lipstick boy
She was a beautiful boy
Was hätte ich dafür gegeben, wenn dieser Abend ein paar Jahre früher stattgefunden hätte. Ihre große Schwester, mit der ich sie ganz am Anfang verwechselte - es hätte tatsächlich ihre große Schwester sein können - war häufig im einzigen halbwegs akzeptablen Laden der kleinen Unistadt, in dem ich auch mangels Alternativen fast jeden Dienstagabend herumhing.
Mein Kollege Mac, der Webmaster, mit der Bierflasche in der Hand im der rechten Ecke stehend wie immer, jede Menge Germanisten- und Anglistenpack auf der überfüllten kleinen Tanzfläche; mein Informatiker-Kumpel Thomas, der mir sinnloserweise die neuesten Root-Hacks aus seiner Linux-Mailingliste ins Ohr brüllt -- die Szenerie vor Augen, habe ich heute unweigerlich die Pixies im Ohr, "Where Is My Mind". Sisters of Mercy, diffuse Drum-and-Bass-Sounds, ein Mischmasch längst vergessener Tracks. Und, natürlich - Underworld, "Born Slippy".
Grelles, zuckendes Licht; die Nebelmaschine, die mit einem noch durch die Musik hindurch hörbaren "Pfffffftt" den Tanzenden legionellengeschwängerten Kunstnebel gegen die Beine furzt, der langsam den ganzen Raum einhüllt. Ein Gestank wie im Inhalationssaal.
Shouting
Lager lager lager lager shouting...
"Biologin", brüllt Thomas mich von links an, "wenn es die ist, die ich meine", "im [beep]-Wohnheim angeblich sowas wie ein Wanderpokal."
Ich sehe ihr weiter zu, wie sie selig ihre Hüften auf der Tanzfläche wiegt. Und ein riesiger, häßlicher Kasten aus den Fünfzigern mit seinen unzähligen 10-Quadratmeter-Ställen, kakerlakenbefallenen Flurküchen und den tristen Endloskorridoren mit Tür an Tür, in denen man Nachts aus fast jeder Ecke das obligatorische laute Stöhnen hört, leuchtet für einen Moment in einer goldenen Aura der Verklärung.
Wir fanden schließlich unsere Gastgeberin. Nach einem kurzen Smalltalk ließ ich sie mit meinem Freund allein und setzte mich Richtung Bier ab. Um mich herum jede Menge netter, zufrieden und ausgefüllt wirkender junger Erwachsener, die ich an diesem Abend mit einer eigenartigen Freude wahrnahm, vermischt mit etwas Wehmut - wie ein großartiges Album, das man mit Jahren Verpätung für sich entdeckt und dessen Release man seinerzeit verpaßt hat. Ein biographisch Versprengter, von den glatten, beschaulichen Lebensläufen der Anwesenden fast so weit entfernt wie von der Liebsten, von der mich 1000 Kilometer Luflinie und zwei Ländergrenzen trennten.
Von einer sehr sympathischen Blonden, die es gerade hinter sich hatte, ließ ich mir sagen, daß dreißig werden cool sei. Ich führte weitere nette Unterhaltungen, übte in den Gesprächspausen im Geiste Sätze wie "Ich bin dreißig! Ich bin für diesen Mist zu alt!", oder "Als Dreißigjähriger kann ich mich getrost davon verabschieden!" und registrierte befriedigt, daß ich mich dem idealen Alholpegel näherte, als mein Freund mich beiseite zog und mich in die "Katastrophe" einweihte.
Die Gastgeberin hatte ihm irgendwann fordernd und eindeutig zu verstehen gegeben, daß sie auf einem textilfreien Abendausklang gemeinsam mit ihm bestand; mein Freund, völlig von der Situation überrascht, murmelte daraufhin etwas von "gesundheitlichen Problemen" wie "herausgerutschten Bandscheiben".
Nun gut. Das eigentlich Malheur dabei: Rückweg abgeschnitten. Der letzte Zug war weg.
So saßen wir drei nun inmitten des Partytreibens - sie weinerlich und eingeschnappt, M. indigniert und etwas ratlos, ich dagegen innerlich feixend, denn ich machte sie, wenn auch sonst selten nachtragend, dafür verantwortlich, meinem privaten Glück (kind of) nicht genügend nachgeholfen zu haben. Meinen Freund M. zur Party mitzunehmen war das Zustoßen bis zum Heft, mein augenzwinkerndes Alleinlassen der beiden die genüßliche halbe Drehung des Bajonetts gewesen.
Als es irgendwann zur nächtlichen Ruhe ging, fanden wir uns schließlich zu dritt in ihrem Zimmer ein: mein Freund würde das Bett mit ihr teilen, mir wurde ein Schlafsack in die Hand gedrückt, der ärgerlicherweise aus olfaktorischen Gründen völlig unbetretbar war. Während die beiden also friedlich und platonisch schlummernd unter warmen Daunen den Rest der Nacht miteinander zubrachten, nahm ich im Abstand von ca. fünf Metern vom Nichtgeschehen in streng chronologischer Reihenfolge sämtliche 66 Stellungen des Camp-a-Sutra ein, mit den zwei bekannten Grundpositionen: Schlafsack auf mir, weil arschkalt im Zimmer, und ich auf Schlafsack, weil Boden zu hart.
Als ich mich in der Morgendämmerung aus dem Zimmer stahl und bei der Tür einen letzten Blick auf die beiden warf, hatte ich es sofort im Ohr: das Intro von "Born Slippy". Das Motiv stimmte wunderbar mit dem Ende von "Trainspotting" überein: der frühe Morgen kurz vor dem Sonnenaufgang, die Schlafenden, das kurze Zögern vor der Entscheidung; der Verrat. (Mein Freund verfluchte mich später lautstark für diesen Abgang...)
So zog ich Richtung Bahnhof, der aufgehenden Sonne und einem neuen Jahrzehnt entgegen, eine imaginäre Reisetasche voller Geldscheine auf dem Rücken, den Sound und die Zitate der "Trainspotting"-Schlußszene im Sinn:
"Choose Life. Choose a job. Choose a career. Choose a family. Choose a fucking big television, choose washing machines, cars, compact disc players and electrical tin openers."
Sag Ja zum Leben...!
[Epilog. Die Gastgeberin hat wenig später in einem Café-Gespräch mit M. bestritten, sich auch nur im Entferntesten vorstellen zu können, jemals mit ihm...
Mein Leben - und das von M. - nahm ein halbes Jahr später durch das als "New Economy" bekannt gewordene Phänomen eine unerwartete Wendung, im Zuge dessen wir acht Hausnummern vom Ort des Geschehens entfernt einen neuen Job antraten. Die WG sollte ich bis zu ihrer Auflösung nie wieder besuchen.]
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